Li Xuetao: Die Geschichte der chinesisch-ausländischen Beziehungen ist die wahre Weltgeschichte

In den letzten zwei Jahren habe ich an der Beijing Foreign Studies University vor Bachelor- und Masterstudierenden Vorlesungen zur Geschichte der chinesisch-ausländischen Beziehungen gehalten. Neben der Aufzählung einiger historischer Fakten über den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch in der Geschichte der chinesisch-ausländischen Beziehungen halte ich es für wichtiger die Studenten erkennen zu lassen, dass die sogenannte Geschichte nicht nur ein statisches Wissen über ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Region ist, sondern ein dynamisches Wissen, das als ein breites Spektrum von Wechselbeziehungen verstanden und untersucht wird.

Das Konzept der „Weltgeschichte“ geht von der Vorstellung aus, dass die Welt eins ist. Sowohl als Ganzes als auch in Bezug auf bestimmte ausgesuchte Aspekte ist es eine Geschichte der inneren Vernetzung der Menschheit. Diese Idee basiert auf der Vorstellung, dass es etwas in der menschlichen Geschichte gibt, das allen gemeinsam ist. Die Weltgeschichte ist gewiss keine Chronik oder eine Zusammenstellung von Informationen zu allen Regionen und Völker; sie ist die Geschichte einiger spezieller Themen, die die Menschheit als Ganzes betreffen, sie betrifft die Untersuchung und Ausarbeitung der Einheit und Vielfalt der menschlichen Entwicklung aus einem einzigartigen Blickwinkel.

Der amerikanische Historiker William McNeill (1917-2016) argumentierte, dass die Interaktion mit Außenseitern eine wichtige treibende Kraft für den sozialen Wandel sei. Er stellte fest:

“Once clashing cultural expectations arose at a few crossroads locations, civilized societies were liable to keep on changing, acquiring new skills, expanding their wealth and power, and disturbing other peoples round about. […] Approaching the conceptualization of world history in this fashion, separate civilizations became the main actors in world history—accepting or rejecting new ways come from afar, but in either case altering older social practices, since successfully to reject an attractive or threatening novelty might require changes at home quite as far-reaching as trying to appropriate it.“[1]

Spätere Historiker haben „Interaktion“ als Alternative zum früheren „Dominanz-Kommunikations-Modell“ vorgeschlagen, d.h. statt die Welt mit dem Westen als Maßstab zu bewerten eher die Gegenseitigkeit der Interaktanten als Akteure zu betonen.

 

Der Austausch von materiellen Dingen

Es folgen zwei Beispiele aus der Objektgeschichte, um zu prüfen, ob es eine sogenannte „Nationalgeschichte“ im eigentlichen Sinn gibt. Betrachten wir zunächst die Violine, ein westliches Instrument. Wenn man mit der europäischen Musikgeschichte vertraut sind, weiß man, dass die erste moderne Geige Mitte des 16. Jahrhunderts in Italien aufkam. Im Haus von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) in Salzburg ist die Geige ausgestellt, die das Musikgenie als Kind benutzt hat. Man denkt sicherlich an die „Geige“ als ein ursprünglich europäisches Instrument. Aber die Geige besteht aus einem Korpus und einem Bogen, und der Korpus als separates Zupfinstrument findet sich auf ägyptischen Wandmalereien aus dem 15. Jahrhundert v. Chr., und ein rundes Instrument mit langem Griff—die Laute oder pipa琵琶—wird in China seit der Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) verwendet, die europäische Harfe gehört auch zu dieser Sorte von Musikinstrumente. Musikarchäologen zufolge wurde der Geigenbogen im 8. Jahrhundert von Musikern in Keriya (Xinjiang) erfunden, und im 12. Jahrhundert von portugiesischen Reisenden nach Europa gebracht. Dies führte zur „Erfindung“ der Violine in Italien. Derart betrachtet kann die Geige streng genommen nicht als europäisches Instrument gelten.

Der Historiker Kenneth Pomeranz (1958-) von der University of California hat in seiner Studie zur Geschichte des Alltags das Beispiel des „Shampoos“ genannt, das ich auch sehr überzeugend finde. Im 18. Jahrhundert stellten die Beamten der Ostindien-Kompanie auf dem südasiatischen Subkontinent fest, dass die einheimischen Inder der Oberschicht nicht mit ihnen verkehrten, weil die Briten es nicht gewohnt waren, sich täglich die Haare zu waschen und zu duschen, so dass Inder der höheren Kasten dachten, dass die Briten stanken. Später entdeckten diese britischen Händler, dass die lokalen Brahmanen-Aristokraten ihre Haare täglich mit einem Pflanzenextrakt namens चाँचाँचा पो (shampoo) wuschen, so dass sie immer einen angenehmen Duft am Körper hatten. Als diese Engländer der East India Company ihren Odor mit Shampoo abwuschen, wurden sie bald von Indern akzeptiert.

Diese Körperpraxis aus Indien wurde nicht nur von den Briten übernommen, sondern galt allmählich als westliche Sitte (wenn wir heute auf deutschen Websites nach dem Wort Shampoo suchen, finden wir meist Fotos von blonden Europäern mit Shampoo-Schaum auf dem Kopf!). Danach wurde es als selbstverständlich betrachtet, dass das Waschen der Haare mit Shampoo sowohl ein christliches Symbol der heiligen Reinheit als auch ein Zeichen der Zivilisation war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese kolonialen Praktiken Teil der „Zivilisation“, die der Westen zu exportieren vorgab. Es ist klar, dass jede Gesellschaft, einschließlich des Westens, Teil der globalen Gemeinschaft ist, und dass Wettbewerb, Vermischung, Kollision und gegensätzliche Machtverhältnisse die treibende Kraft hinter der globalen Entwicklung sind. Was wir für eine westliche „zivilisatorische“ Tradition halten, kann in Wirklichkeit einen außereuropäischen Ursprung haben.

 

Der Handel mit Pflanzenarten

Betrachten wir zudem das Beispiel der Artenwanderung. Die Fortpflanzung und Wanderung von Arten, wenn sie von selbst erfolgt, ist sehr langsam und durch Zeit und Raum begrenzt. Die Wanderung wird durch menschliche Aktivitäten über geografische Gebiete hinweg stark beschleunigt, und obwohl diese „menschliche Intervention“ auch Krankheiten und andere noch nie dagewesene Risiken für die ankommenden Länder und Regionen mit sich bringt, hat ihr Transfer historisch gesehen auch die Evolution von Arten erleichtert und die Hybridisierung von Lebewesen gefördert und damit ihre Überlebenschancen erhöht. Die Untersuchung des Transfers gebietsfremder Arten wird die bisherigen Grenzen der Nationalstaaten aufbrechen und damit Untersuchungsgegenstände in einen global vernetzten Kontext stellen. Basierend auf den drei Tabellen in Professor Zhang Guogangs 张国刚 kürzlich erschienenem Buch „A General History of Cultural Relations between East and West“ 《中西文化关系通史》, herausgegeben von der Tsinghua Universität, habe ich in Tabelle 1 zusammengefasst, wo die wahren „Ursprünge“ der essbaren, medizinischen und dekorativen Pflanzen liegen, denen wir heute täglich begegnen.

 

Tabelle 1

Informationen über die Einführung von alltäglichen Speise-, Heil- und Zierpflanzen

Name Einführungszeitraum Nach China eingeführt aus Ursprünglicher Herkunftsort
Pfeffer Westliche Han (207-9 v.Chr.) Südasien (Indien) Südasien
Ingwer Westliche Han Südasien Indien
Trauben Westliche Han (Zhang Qian, 195-114 v. Chr.) Zentralasien Ägypten, Küsten des Mittelmeers
Weizen Westliche Han Zentralasien Südasien und Zentralasien
Zuckerrohr Westliche Jin (265- 316) Südostasien (Funan) Südasien und Südostasien
Aubergine Jin-Dynastie (265-420) Nicht bekannt Indien, Thailand
Granatapfel vermutlich westliche Jin (nach der Hälfte des 3. Jh.) Zentralasien Persien
Walnuss vermutlich westliche Jin (Beginn des 4. Jahrhunderts) Zentralasien Persien
Erbse Vermutlich Jin-Dynastie (4. Jh.) Westasien (Persien) Nicht bekannt
Sesam Bereits in der östlichen Jin (317-420) Westasien (Persien) Westasien
Knoblauch Bereits in der östlichen Jin Zentralasien oder Westasien (Persien) Zentralasien oder Westasien
Gurke Vermutlich Südliche und Nördliche Dynastien (420-581) (vor dem 6. Jahrhundert) Westasien Westasien
Spinat Tang-Dynastie (617-907) Südasien (Nepal) Mittelmeer
Feige Nicht vor der Tang-Dynastie Zentralasien (Indien) und Westasien (Persien) Südasien und Westasien
Wassermelone Späte nördliche Song-Dynastie (960-1127) über Westasien – Zentralasien – Kitan Afrika
Kürbis Nicht später als Song-Dynastie ( 960-1279) Nicht bekannt Südosten Asiens
Karotte Yuan-Dynastie (1279-1368) Westasien (Persien) Küste Persiens
Ackerbohne Nicht vor Yuan-Dynastie Vermutlich Westasien (Persien) Nicht bekannt
Wunderbaum Nicht später als Tang-Dynastie Stammt vermutlich aus Zentralasien und Indien Ägypten
Luzerne Westliche Han (Zhang Qian) Zentralasien Mittelmeer (unklar)
Jasmin Vermutlich westliche Jin Vermutlich Zentralasien (Persien) Westasien
Tulpe Tang-Dynastie Zentralasien und Südasien Nähe Persiens und Nordwesten von Indien
Narzisse Tang-Dynastie Vermutlich Persien Europa (Rom)
Lotus Tang-Dynastie Südasien (Indien) Südasien
Baumwolle Song- und Yuan-Dynastie Zentralasien und Südasien Südasien
Flachs Vor dem 14. Jahrhundert Zentralasien Küsten des Mittelmeers

 

Heute scheint es, dass diese Arten schon lange Teil des chinesischen Lebens sind, wobei „Ingwer“ ein traditionelles chinesisches Medikament wurde, „Aubergine mit Fischgeschmack“ ein repräsentatives Gericht der Sichuan-Küche, und sogar Baumwolle wurde erst in der Song- und Yuan-Dynastie in China eingeführt.

 

Entangled History und die moderne Weltgeschichte

Die Weltgeschichte wird verstanden als eine sogenannte „Entangled History“. In der Tat ist die heutige Erforschung der Weltgeschichte unerlässlich, um die nationalistischen Beschränkungen der Mainstreammethodologie zu durchbrechen. Eine vereinfachte ethnohistorische und eurozentrische Perspektive ist für eine solche Forschung völlig unangebracht. In einem permanenten Prozess der Interaktion sind der betrachtete Gegenstand und die Wahrnehmung desselben wechselseitig konstitutiv. Entwicklungen auf der einen Seite können die Folge von Entwicklungen auf der anderen Seite sein. Der britische Historiker Christopher Bayly (1945-2015) identifizierte ein polyzentrisches Weltsystem, in dem z. B. China und das islamische Reich eine wichtige Rolle bei der Entstehung ähnlicher politischer und kultureller Strukturen auf globaler Ebene spielten. Damit wurde das bisherige Verständnis, dass die Wissensmigration nur von europäischen in außereuropäische Regionen floss, immer wieder in Frage gestellt.

Die Idee einer Weltgeschichte im heutigen Sinne entstand erst in den 1960er Jahren aus der Diskussion um Moderne und Modernisierung, einschließlich der radikal unterschiedlichen Formen und Wege der Entwicklung in der Welt. 1963 veröffentlichte William McNeill das äußerst einflussreiche The Rise of the West: A History of the Human Community, in dem er aus der westlichen Tradition heraus argumentierte, dass die moderne Welt ausschließlich ein Produkt des Westens sei. In jedem Fall hat sich die Weltgeschichte seit den 1960er Jahren rasant entwickelt, vor allem in wichtigen Dimensionen der Modernisierungstheorie, wie Rationalisierung, Säkularisierung, Verwissenschaftlichung, Technologisierung und Urbanisierung. Hinzu kommen wirtschaftsgeschichtliche Aspekte, wie z.B. bei der Industrialisierung Großbritanniens und Chinas und deren mögliche Ursachen und die verschiedenen erzielten Durchbrüche.

Shmuel N. Eisenstadts (1923-2010) argumentiert mit dem Begriff der multiplen Modernitäten, dass jede Kultur ihren eigenen Weg zur Moderne hat, ihre jeweils eigenen kulturellen Bedingungen und Ziele bestimmen das Tempo der Entwicklung. Was sind „multiple Modernitäten“? Eisenstadt schreibt: “the history of modernity is best seen as a story of continual development and formation, constitution and reconstitution of a multiplicity of cultural programmes of modernity and of distinctively modern institutional patterns, and of different self-conceptions of societies as modern – of multiple modernities.”[2] Die plurale Welt der pluralen Moderne konstruiert den Rahmen, in dem sich Menschen bewegen und wirkmächtige historische Ereignisse schaffen, und sie macht auf diese Weise für Beobachter zugänglicher. Es ist klar, dass sich die „Moderne“ nicht isoliert entwickelt, sondern in ständiger Wechselwirkung mit den Kulturen und Traditionen realisiert wird, in die sie eingebettet ist.

 

Fazit

Tatsächlich schlug auch der chinesische Gelehrte Wu Yujin (1913-1993) einen ganzheitlichen Ansatz für die Weltgeschichte vor. Ihm zufolge ist dieser die systematische Ausarbeitung der Entwicklung der menschlichen Geschichte von einer primitiven, isolierten und verstreuten Gruppe von Menschen zu einem eng verbundenen Ganzen in der Welt. In der Tat ist es heute so, dass die sogenannte Weltgeschichte eine Beziehungsgeschichte sein sollte, die China einschließt und über die Perspektive der Geschichte einzelner Länder hinausgeht, um die Veränderungen der Welt aus der Interaktion ihrer Teile heraus zu verstehen.

Der amerikanische Historiker Jerry H. Bentley (1949-2012) wies in seiner Definition der „neuen Weltgeschichte“ darauf hin:

“It (gemeint ist die Weltgeschichte – Anm. d. Red.) does not imply that historians must deal with the entire history of all the world’s peoples, and certainly not all at the same time. It refers instead to historical scholarship that explicitly compares experiences across the boundary lines of societies, or that examines interactions between peoples of different societies, or that analyzes large-scale historical patterns and processes that transcend individual societies.”[3]

Zu den spezifischen Bereichen der Weltgeschichte, die untersucht werden sollen, gehören laut Bentley der Klimawandel, die Ausbreitung von Arten und Infektionskrankheiten, die Massenmigration, die Ausbreitung von Technologie, die militärischen Aktivitäten expandierender Imperien, der kulturübergreifende Handel, die Verbreitung verschiedener Ideologien und die Ausbreitung verschiedener religiöser Überzeugungen und kultureller Traditionen. Es ist klar, dass das, was Bentley Weltgeschichte nennt, in Wirklichkeit eine Geschichte der Beziehungen ist. Umgekehrt ist der Inhalt der Geschichte der chinesisch-ausländischen Beziehungen, mit der wir uns seit vielen Jahren beschäftigen, gerade der Inhalt der Weltgeschichte.

Profitierte die Universalgeschichte des 18. Jahrhunderts vom positiven Geist der Aufklärung, so stützte sich die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts auf die Philosophie und die Naturwissenschaften, die sich auf die verschiedenen Zivilisationen stützten, und konzentrierte sich stärker auf die sogenannten Gesetze der Geschichte. Im 20. Jahrhundert konnte sich die Weltgeschichte entlang der Modernisierungsdiskussion rasant entwickeln. Und seit dem 21. Jahrhundert ist die Geschichte unserer Zeit notwendigerweise eine Geschichte, die auf der Erfahrung der Globalisierung aufbaut und sich stärker auf die Verflechtung der Völker konzentriert. Historische Prozesse sind miteinander verknüpft und konstituieren sich durch die Wechselwirkungen von Regionen und Völkern. Zu den aktuellen neuen Trends im Studium der Weltgeschichte gehören die Weltwirtschaft und das Weltsystem, die Analyse der Zivilisationen und die Geschichte der Globalisierung. Die heutige Weltgeschichte ist eigentlich eine Geschichte der globalen Beziehungen.

 

 

Li Xuetao 李雪涛: 中外关系史才是真正的世界史 . Quelle: Shanghai Normal University Journal 《上海师大学报》, Nr. 3, 2021. Zu finden auf: https://mp.weixin.qq.com/s/SApDwM8rNoaNFoqDPsAwjQ (letzter Aufruf 1. Juli 2021).

 

[1] William McNeill, “The Changing Shape of World History,” History and Theory 34, Nr. 2 (Mai 1995): 15-16.

[2] Shmuel N. Eisenstadt, “The Civilizational Dimension of Modernity: Modernity as a Distinct Civilization,” International Sociology 16, Nr. 3 (September 2001): 320–40, here 320.

[3] Jerry H. Bentley, “The New World History,” in A Companion to Western Historical Thought, eds. Lloyd Kramer und Sarah Maza (Malden und Oxford: Blankwell, 2002), 393, https://doi.org/10.1002/9780470998748.ch21.

 

Acknowledgement: This translation has been made possible by the Volkswagen Foundation.